Landwirt siegt über Reichsluftfahrtministerium

Den heutigen Menschen stellt sich die Diktatur des Dritten Reiches verein­facht als ein festgefügter Machtblock dar, dem der Einzelne schutzlos und ohne Recht gegenüberstand, wenn er mit der Staatsautorität in Konflikt kam.

Dass dies manchmal anders sein konnte, zeigt eine Episode um ein Enteignungsverfahren um landwirtschaftlichen Grundbesitz zur Vergrößerung des Militärflugplatzes in Delmenhorst-Adelheide.

Das Dritte Reich war in seinen Organisations- und Befehlsstrukturen, wie neu­ere Forschungen nachweisen konnten, durchaus nicht monolithisch. Eine Anzahl verschiedener Instanzen und konkurrierender Gruppen befehdeten sich gegenseitig und minderten die Wirksamkeit staatlich-politischen Han­delns. Auch dafür ist die Auseinandersetzung um den Hof Wiggersloh in der Gemeinde Ganderkesee ein interessantes Beispiel.

Im Rahmen der Aufrüstung und allgemeinen Wehrpflicht war Delmenhorst 1935 Garnisonstadt geworden. Nach dem Bau der Kasernen an der Wildeshau­ser Straße für das Infanterie-Regiment 65 der Wehrmacht plante auch die Reichsluftwaffe die Einrichtung eines Flugplatzes bei Delmenhorst. Dafür wurden mit Wirkung vom 1. September 1935 die Bauerschaften Adelheide I und II von Ganderkesee ins Delmenhorster Stadtgebiet eingemeindet. Danach wurde sofort mit dem Bau des geplanten Militärflugplatzes begonnen.

Mehrere Bauerstellen wurden enteignet und die Gebäude abgebrochen. Auch andere Bauern mussten Land für die Errichtung der Kasernenanlagen, Woh­nungen für die verheirateten Angehörigen der Truppe und den Ausbau des Rollfeldes abgeben.

Das Richtfest des Flugplatzes konnte bereits am 9. Mai 1936 in der großen Werfthalle gefeiert werden, nachdem am 2. April 1936 die III. Gruppe des Kampfgeschwaders BOELCKE unter Major Abernetti nach Adelheide verlegt worden war. Gegen Ende desselben Jahres war der Flugplatzbau praktisch abgeschlossen.

Im Jahre 1940 sollte der Flugplatz Delmenhorst-Adelheide dann nochmals erweitert und dafür wiederum bäuerlicher Besitz enteignet und dem Deut­schen Reich übertragen werden.

Rechtsgrundlage für entsprechende Verfahren war das am 29.03.1935 erlassene Reichsgesetz über die Landbeschaffung für Zwecke der Wehrmacht. Der § 2 dieses Gesetzes sah eine angemessene Entschädigung für den betroffenen Grundeigentümer vor, die in Land oder Geld geleistet werden sollte. Eine Ent­schädigung mit Land war vorgeschrieben, sofern es sich um einen Erbhof han­delte.

Hilfe erhoffte er sich beim Landrat Willms, der sich in einem Schreiben vom 21.03.1941 an das Luftgaukommando XI in Hamburg-Blankenese für ihn ver­wandte. Er fragte an, ob es wirklich notwendig sei, dass Tönnies „seinen alten wunderschönen Erbhof aufgeben“ solle. Zumindest möge man ihn bei der Ent­schädigung nicht kleinlich behandeln.

Am 14. Juni 1941 schrieb Wilhelm Tönnies sowohl an das Luftgaukommando XI als auch an den Landesbauernführer der Landesbauernschaft Weser-Ems in der Mars-la-Tour-Straße 2 in Oldenburg.

Im ersteren Brief signalisierte er Interesse an den ihm angebotenen Gütern in Nutzhorn, Gemeinde Ganderkesee und Garnholt im Ammerland. In seinem fünfseitigen Schreiben an den Landesbauernführer betont er noch einmal seine grundsätzliche Verhandlungsbereitschaft und seine außerordentlich schwie­rige Lage: „Dass meine Lage außerordentlich schwer ist, wird auch der Herr Landesbauernführer nicht verkennen können. Der Hof in Wiggersloh ist schon über 400 Jahre in der Familie meiner Frau. Ich selbst stamme auch aus einer alten Bauernfamilie. Ich fühle mich deswegen gezwungen, meinen beiden zum Heeresdienst einberufenen Söhnen nicht etwa Kapital, sondern wieder heimischen Grund und Boden zu hinterlassen, auf dem unsere Familie als Bau­ern weiterleben kann.

Ich möchte auch von vornherein betonen, dass ich durchaus nicht Wert darauf lege, nun einen Hof, der erbhoffrei ist, wiederzubekommen, sondern mir ist es ebenso recht, wenn ich für meine beiden Söhne je einen Erbhof bekomme. Meine Frau und ich haben uns, da unsere beiden Söhne Landwirte sind, immer mit dem Gedanken getragen, Wiggersloh einmal zu teilen. Dann wären die bei­den Höfe von selbst Erbhöfe geworden.“

Tönnies beklagt sich ferner darüber, dass eine Werteinschätzung von Wiggers­loh noch nicht erfolgt sei und auch die ihm vorgeschlagenen fünf Höfe, mit denen er sich nachfolgend auseinandersetzt, kostenmäßig nicht zu taxieren seien.

Angeboten waren Tönnies das ebenfalls in der heutigen Gemeinde Ganderke­see liegende etwa 75 ha große Gut Nutzhorn, für das die Martin Brinkmann AG in Bremen allerdings eine halbe Million Reichsmark Kostenausgleich haben wollte. Dies war Tönnies illusorisch.

Ebenfalls im Gespräch war als Austauschobjekt der Deye’sche Hof in Garn­holt im Ammerland. Hier forderte Tönnies anscheinend die Wiederzulage abgetrennter Flächen. Gegen die höhere Bonität von Garnholt setzte er den ideellen Verlust von Wiggersloh, bezweifelt im Übrigen aber, dass das Luftgaukommando den Hof überhaupt ernsthaft anbieten könne.

Auch der Hof von Marieschen in Glane bei Ahlhorn kam trotz seiner Größe von 200 ha wegen der minderwertigen, leichten Ackerböden als Ausgleichsobjekt nicht infrage. Angeblich lege aber auch der Gauleiter Wert darauf, Glane wieder an die Witwe des früheren Eigentümers zurückzugeben, da das Gut der Familie Harms unter den ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnissen des Zweiten Reiches zwangsversteigert worden sei.

Die Besitzung von Windberg in Schwanburg weist Tönnies ebenfalls empört zurück. Von den 160 ha seien nur 40 ha kultiviert, der Boden minderwertig, das Wirtschaftsgebäude alt. Er fügt hinzu:

„Ich würde aber, abgesehen von diesen im Boden begründeten Schwierig­keiten, noch sehr viel weitere Schwierigkeiten erleben. In dieser absolut katho­lischen Gegend würde man mich immer als fremden Eindringling behandeln, und ich würde die größten Schwierigkeiten mit der Beschaffung von Arbeits­kräften haben.“

Der Deye’sche Hof in Lübberstedt wird schließlich wegen völlig anderer Struktur abgelehnt.

Tönnies schließt mit den Worten:

„Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, dass ich auch an den 35 ha, die nicht enteignet werden, nicht vollkommen festhalte, sondern ich will nur diesen Rest des alten Hofes, der immerhin etwas vom alten Hof bleibt, behal­ten, um überhaupt Boden unter den Füßen zu haben, bis wir für unsere Söhne etwas wiederhaben. Dabei sträube ich mich durchaus nicht dagegen, einen Erb­hof zu bekommen, aber eine Familie, die von einem Stammhof wie Wiggers­loh kommt, möchte immerhin wieder einen Stammhof haben, der sich mit Wiggersloh wenigstens annähernd vergleichen lässt, und eine Familie, die seit undenklichen Zeiten in dieser Gegend gelebt hat, möchte auch gern in der alten Heimat bleiben.“

Da die Angelegenheit nicht vorankam, wurde das Luftgaukommando XI in Hamburg im Sommer 1941 ungeduldig und bat mit Schreiben vom 30. Juli 1941 die Reichsstelle für Landbeschaffung in Berlin um Durchführung der Ent­eignung des gesamten Besitzes der Ehefrau Anna Tönnies geb. Linnemann nach den Bestimmungen des Gesetzes über die Landbeschaffung für Zwecke der Wehrmacht vom 29.03.1935. Auch die Kreis- und Landesbauernschaft Weser-Ems mit Sitz in Oldenburg sei damit einverstanden, dass an Tönnies der Kaufpreis bezahlt werde, da sein Besitz kein Erbhof sei. Die ersatzberechtigten Bauern sollten noch vor Beginn der Herbstbestellungsarbeiten in den Besitz der tönniesschen Grundstücke kommen. Beigefügt wurden dem Schreiben entsprechende Grundbuchauszüge, Katasterpläne sowie auch ein Aktenver­merk über eine Verhandlung auf dem Flugplatz Delmenhorst vom 14.06.1941 über die Besitzumschreibungen Adelheider Bauern zur Vergrößerung des Delmenhorster Fliegerhorstes und der Inanspruchnahme des Wilhelm Tönnies gehörenden Besitzes als Ersatzland.

Der Landesbauernführer hatte Tönnies bereits am 7. Mai 1941 wissen lassen, dass, falls er sich nicht mit der Luftwaffe auf eines der angebotenen Ersatzob­jekte grundsätzlich einige, einer Abfindung in Geld zugestimmt werde. Die Enteignung des Hofes Wiggersloh schien also nur noch eine Frage der Zeit.

Mit Erlass vom 10.08.1941, am 22. Juni 1941 hatte der Angriff der Deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion begonnen, leitete die Reichsstelle für Land­beschaffung das Enteignungsverfahren gegen die Landwirtsehefrau Anna Tön­nies als Eigentümerin von Gut Wiggersloh bei Delmenhorst ein.

Zur Planfeststellung und Besitzeinweisung wurde in das Bürgermeisteramt zu Delmenhorst auf den 08.09.1941, 17 Uhr, geladen. Den Beteiligten, Landwirts­ehepaar Tönnies, Luftgaukommando XI, Bürgermeister der Gemeinde Gan­derkesee, Landesbauernschaft Weser-Ems und Kreisbauernführer in Delmen­horst wurden Ladungen durch Postzustellungsurkunde übermittelt.

Der Termin unter Vorsitz des Rechtsanwalts Görres von der Reichsstelle für Landbeschaffung in Berlin fand ohne Anwesenheit der Eigentümerin statt.

Der Vertreter des Luftgaukommandos erklärte, dass dem Deutschen Reich für die Anlegung des Flugplatzes von Tönnies durch Vertrag vom 14.08.1940 bereits freiwillig 99 ha überlassen worden seien. Die Abgabe der Restfläche in Größe von ca. 37 ha sei für Umsiedlungszwecke erforderlich, werde von der Eigentümerin aber verweigert, da ihr jüngster Sohn diese weiter bewirtschaf­ten wolle. Kreisbauernführer Strudthoff betrachte den Besitz als durch den Flugplatz sowieso durchschnitten und zur selbständigen Bewirtschaftung in einer Hand als ungeeignet.

Das Grundstück wurde als enteignungswürdig eingestuft und das Deutsche Reich mit Wirkung zum 01.11.1941 in den Restbestand des Gutes Wiggersloh eingewiesen. Die Festsetzung einer Besitzeinweisungsentschädigung blieb vorbehalten.

Im Anschluss daran fand eine Ortsbesichtigung statt, bei der auch Friedrich Wilhelm Tönnies angetroffen wurde, der der Inanspruchnahme der Restflä­chen des Hofes Wiggersloh nochmals widersprach.

Allerdings wurde eingeräumt, dass die Entschädigung in Land gewährt werden sollte, worauf kein gesetzlicher Anspruch bestand. Die Familie Tönnies und die Landesbauernschaft sollten gemeinsam versuchen, einen geeigneten Ersatz zu finden. Das Delmenhorster Amtsgericht trug einen Monat später (20.10.1941) das Enteignungsverfahren als eingeleitet in das Grundbuch ein.

Anfang 1942 unterbreitete Wilhelm Tönnies zusammen mit seinem Sohn, der sich damals in Delmenhorst im Lazarett befand, der Landesbauernschaft Weser-Ems, dass entweder das Gut Hahn bei Oldenburg (160 ha) oder der Hof Langewisch bei Delmenhorst (76 ha) als Ersatzobjekt in Frage käme und er diese gerne besichtigen wolle. Da die Tönnies im Hinblick auf die zugesagte Umsiedlung ihre Rinderherde bisher durchgehalten hätten, obwohl Grünland für den Weidegang des Viehs nicht mehr vorhanden sei, müsse die Umsiedlung bis 1. Mai des Jahres 1942 durchgeführt sein.

Am 10. Februar 1942 veranlasste die zuständige Reichsstelle für Landbeschaf­fung die Besichtigungsmöglichkeit beider Höfe. Besitzer des Hofes Lange­wisch war der Rechtsanwalt Dr. Otto Dettmers aus Bremen, Besitzer des Gutes Hahn die Witwe Maria Hünninghaus und ihre Tochter in Hasslinghausen bei Gevelsberg/Westfalen. Beide wehrten sich sofort auf das heftigste gegen die drohende Enteignung ihres Besitzes als Ersatzlandgestellung für Tönnies. Dr. Dettmers gab vor, dass einer seiner vier Söhne den in seiner Familie seit Jahrhunderten traditionellen Beruf des Landwirts ergreifen wolle und für ihn der Hof erhalten bleiben solle. Derzeitiger Pächter sei sein jüngster Bruder, der in den letzten zehn Jahren den Hof auf das hervorragendste bewirtschaftet habe und im Kreise Delmenhorst als erstklassiger Landwirt allgemein aner­kannt und geachtet sei. Auch ihm würde bei Enteignung die Existenzgrundlage entzogen.

Mitte März 1942 wurde Rechtsanwalt Dettmers persönlich bei der Reichsstelle in Berlin vorstellig und untermauerte seine Argumentation besonders für eine Anerkennung von Langewisch als Erbhof mit rechtlichen Einwänden. Rechts­anwalt Görres von der Reichsstelle entschied, dass nach erfolgter Nachprüfung der Eigentümer- und Pächterverhältnisse eine Inanspruchnahme des Hofes Langewisch für Umsiedlungszwecke nicht erfolgen könne (13.03.1942). Blieb also noch das Gut Hahn! Auch dieses war verpachtet und sollte den Enkeln der Maria Hünninghaus, für die deren Schwiegersohn, der Holzhändler Friedrich Seile stritt, erhalten bleiben. Der jüngste Sohn solle sofort nach Beendigung des Krieges Land- und Forstwirtschaft studieren.

Die Landesbauernschaft Weser-Ems wollte sich wegen der Enteignung von Langewisch jedoch nicht geschlagen geben und teilte der Reichsstelle für Land­beschaffung mit Schreiben vom 19.03.1942 mit, dass der Hof Langewisch von Dr. Dettmers als reine Kapitalanlage erworben worden sei. „Wenn heute bei der drohenden Enteignung des Hofes der Besitzer aber behauptet, dass einer sei­ner Söhne wieder Landwirt werden solle, so sind das absolut ungefangene Fische.“

Der einzige Hinderungsgrund sei der Pächter, ein hervorragender Landwirt, der in diesem Jahr für besonders gute Leistungen sogar das Gaudiplom bekom­men werde. Es sei bedauerlich, wenn er durch das Pachtverhältnis auf Dauer niemals zu einem eigenen Betrieb kommen könne. Die Landesbauernschaft fährt fort: „Da nach dem Kriege die Aussichten auch für kapitallos tüchtige Bauern und Landwirte zur Erlangung eines eigenen Betriebes im neuen deut­schen Osten aussichtsreicher denn je sind, halte ich es sogar für vorteilhaft, wenn durch die Inanspruchnahme des Hofes einem so vorzüglichen Wirtschafter rein anregungsmäßig Veranlassung gegeben wird, auf dem Wege der Neubildung deutschen Bauerntums sich selbständig zu machen.“

Ihrerseits bringt die Landesbauernschaft zwei Höfe des Kaufmanns Pauly in Großenkneten und Ahlhorn zur möglichen Übernahme durch Tönnies ins Gespräch.

Rechtsanwalt Dr. Dettmers aus Bremen benannte seinerseits u.a. das Gut Dauelsberg in Delmenhorst als für Umsiedlungszwecke geeignet.

Damit war das Verfahren erst einmal wieder steckengeblieben. Alle Angespro­chenen verteidigten ihren Besitz mit nachvollziehbaren Argumenten und benannten Dritte, um einer Enteignung zu entgehen.

Nicht nur das Enteignungsverfahren gegen Tönnies kam nicht voran, sondern auch vor Ort in Adelheide gab es heftigen Streit. Tönnies weigerte sich schlichtweg, die von ihm bewirtschafteten Flächen aufzugeben. Verzweifelt rief das Luftgaukommando XI am 23.04.1942 bei der Reichsstelle für Landbe­schaffung in Berlin an und erbat die Genehmigung zur zwangsweisen Räu­mung aufgrund der Besitzeinweisung vom 08.11.1941. Dr. Görres von der Reichsstelle riet jedoch zur Zurückhaltung und wollte nichts ohne Zustim­mung der Kreisbauernschaft unternehmen. Offenkundig wollte man nicht zum äußersten Mittel greifen und keine Unruhe unter der Landbevölkerung aufkommen lassen.

Die Eheleute Tönnies verweigerten die Übergabe unter dem Vorwand, die Nutzung der enteigneten Grundstücke sei ihnen bis zur Gestellung von Ersatz­land zugesagt worden. Erneut waren zeitraubende Telefongespräche zur Klä­rung des Sachverhalts erforderlich. In einem Schreiben vom 6. Mai 1942 stellte das Luftgaukommando XI klar, dass von dem Vertreter der Reichsstelle eine Zusage, wie von Tönnies behauptet, nicht gegeben worden sei; es wurde aber nachgegeben. Tönnies sollte nicht gezwungen sein, seinen Viehbestand sofort abschaffen zu müssen. Ihm werde bis zur Beendigung der Weideperiode 1942 eine Fläche von 9 ha Weideland gegen Zahlung der ortsüblichen Pacht von der Fliegerhorstkommandantur in Abstimmung mit dem Kreisbauernführer und Ortsbauernführer vorübergehend zur Verfügung gestellt.

„Eine Verlängerung der Nutzung über den Herbst 1942 hinaus, kommt nicht in Frage, da Sie, falls eine Ersatzhofstelle noch nicht zugewiesen ist, das Vieh ohne nennenswerte Verluste absetzen können. Es wird noch bemerkt, dass die Überlassung der Weidennutzung ein Entgegenkommen seitens der Luftwaffe ist und wird erwartet, dass Sie bemüht bleiben, jede Differenz mit den Nach­barn zu vermeiden.“

Tönnies erhielt 15 ha, davon 9 ha Weideland, die er einzäunen musste, damit das Vieh nicht weitere Flächen betrat.

Auch das Gut Hahn mit seinem gepflegten Waldbestand im Ammerland kam seit Juni 1942 als Ersatzgut für Tönnies nicht mehr in Betracht. Der Wert über­stieg bei weitem den des Hofes Wiggersloh im Delmetal. Der Besitzer Seile aus der Firma Hünninghaus wies zurecht darauf hin, dass Tönnies nur Anrecht auf eine finanzielle Entschädigung habe. Es sei unbillig, den für seinen Sohn, der Volks- und Forstwirtschaft zu studieren begonnen habe und derzeit im Felde stehe, reservierten Besitz zugunsten eines nicht ersatzlandberechtigten Bauern wegzunehmen und diesen sich selbst etwas suchen zu lassen.

Auf einer Verhandlung in Varel nahmen alle Beteiligten Abstand von einer Inanspruchnahme des Gutes Hahn für Tönnies. Deutlich wurde bei der Unter­handlung, dass die Landesbauernschaft, so wenigstens der zuständige Sachbear­beiter Knobloch, als Entschädigung für Tönnies auf einem geeigneten Ersatz­betrieb bestehen werde.

Damit war für Tönnies die größte Gefahr, lediglich mit Geld entschädige zu werden und sich selbst einen Hof suchen zu müssen, gebannt. Die Landesbau­ernschaft Weser-Ems stand nun hinter ihm. Es scheint nach der Aktenlage, dass der Sachbearbeiter Knobloch das Begehren von Tönnies unterstützte.

Als das Luftgaukommando XI in einem Schreiben vom 15.10.1942 erneut ungeduldig wurde und die Landesbauernschaft drängte, einen letzten Versuch zu machen, Tönnies anderweitig Ersatzland nachzuweisen, reagierte diese ungehalten. Dies umso mehr, als die Luftwaffe sich fälschlich auf eine angebli­che Erklärung des Regierungsrates Hagemeister von der Reichsstelle für Land­beschaffung bei der Verhandlung um Gut Hahn berief, von Ersatzland für Tönnies abzusehen und den Erwerbspreis in bar festzusetzen. Mit einem Schreiben vom 29.10.1942 an den Leiter der Reichsstelle in Berlin legte der Landesbauernführer im Gau Weser-Ems, Jaques Groeneveld, den Standpunkt seiner Dienststelle zur Enteignung des Landwirts Tönnies dar und ließ es an deutlicher Kritik am Luftgaukommando XI nicht fehlen.

Das Enteignungsverfahren um Gut Wiggersloh auf dem Höhepunkt des Krie­ges gegen Russland war in ein neues Stadium getreten. Da Landesbauernschaft und Luftgaukommando XI sich nicht einigen konnten, sollte die Reichsum­siedlungsgesellschaft „Ruges“ endlich passendes Ersatzland finden. Die Dienst­stellen selbst schoben sich in ihrem weiteren Briefwechsel mit gereizten Wor­ten gegenseitig in dieser Angelegenheit den „Schwarzen Peter“ zu.

Tönnies selbst ließ auch nach dem Herbst 1942 seine sechs Kühe und zwei Pferde auf dem Gebiet des Fliegerhorstes Adelheide weiden. Flugzeuge in grö­ßerer Zahl starteten vom Flugplatz Adelheide schon lange nicht mehr. Die Delmenhorster Staffel des Kampfgeschwaders Boelcke war bereits im Septem­ber 1939 bei Kriegsausbruch an die polnische Grenze verlegt worden. Auch der Motorenlärm der in Delmenhorst ausgerüsteten Flugzeuge für den Angriff auf Dänemark und Norwegen und den Westfeldzug war schon lange verstummt.

Die einsatzbereiten Flugzeuge selbst lagen auf Feldflughäfen hinter der kämp­fenden Front.

Erst am 23. Januar 1943 beantwortete das Luftgaukommando XI das Schreiben des Landesbauernführers von Weser-Ems vom 29.10.1942. Während dieser drei Monate tobte die Schlacht um Stalingrad, die auch die Luftwaffe zu höch­ster Anstrengung forderte, nachdem der Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Hermann Göring, Hitler die Zusage für sicheren Nachschub für die 6. deut­sche Armee an der Wolga gegeben hatte.

Mit beredten Worten verteidigte der Luftgauintendant Dr. Scheit das Vorge­hen seiner Dienststelle in der Angelegenheit des Landwirts Tönnies. Das Luft­gaukommando habe sich immer in allen Fragen der Landbeschaffung intensiv um Ersatzland für die durch Landabgabe betroffenen Bauern bemüht. Bei der Landesbauernschaft Weser-Ems stieße man insofern auf erhebliche Schwierig­keiten, als nicht nur Ersatzland für Bauern, sondern in fast allen Einzelfällen für kleinste, kleine und große Landwirte verlangt werde; Ersatzland sei deswe­gen kaum noch vorhanden. Trotzdem seien Tönnies acht Höfe als Ersatz­grundstücke angeboten worden: „... im Falle Tönnjes waren aber die Schwie­rigkeiten deshalb so gross, weil Tönnjes Anforderungen an den Ersatzhof stellte, die vom landwirtschaftlichen Gesichtspunkt aus völlig unberechtigt waren und ihrer Eigenart wegen auch gar nicht erfüllt werden konnte. So legte Tönnjes beispielsweise besonderen Wert auf landwirtschaftliche Schönheiten und auf besonders gute Jagdnutzung. Hinzu kam seine Entschlussunfä­higkeit ...“

Der Landesbauernschaft wird unterstellt, sie habe ihre ursprüngliche Haltung, Tönnies bei der Forderung nach Ersatzland nicht mehr zu unterstützen, aufge­geben. Seit der Einleitung des Enteignungsverfahrens vom September 1941 stehe einvernehmlich fest, dass Tönnjes selbst in Verbindung mit der Landes­bauernschaft einen geeigneten Ersatzbetrieb zu finden habe. „... Das war auch umso notwendiger, als das Luftgaukommando auch nicht mehr in der Lage war, noch weitere Höfe für Tönnjes ausfindig zu machen. Dabei muss berück­sichtigt werden, dass ganz abgesehen von den Beschaffungsschwierigkeiten die Luftwaffe namentlich während des Krieges in weitaus stärkerem Maße als der Reichsnährstand eine andere Aufgabe hat, als Grundstücksmakler zu sein.“ Und ungehalten fügte der Luftgauintendant hinzu und wies damit jede Verant­wortung für den unbefriedigenden Verlauf der Angelegenheit von der Luft­waffe:

„Heute nach über zwei Jahren ist die Frage der Ersatzlandbeschaffung im Gegensatz zu allen anderen Fällen noch nichts weiter gekommen. Dass das nicht der Fall ist, ist in erster Linie auf Tönnjes selbst, in zweiter Linie aber auf die Landesbauernschaft zurückzuführen, die nach ihrem Schreiben vom 29.10.1942 den ihr zugewiesenen Aufgabenbereich offenbar völlig verkennt. Ausführungen wie die, dass die Luftwaffe hier, wie auch im Luftgau VI in letzter Zeit einwandfrei unter Beweis gestellt habe, dass sie nicht in der Lage ist, derar­tige Umsiedlungen mit der nötigen Initiative und Schnelligkeit durchzufüh­ren, sind daher nicht nur an sich schon ungewöhnlich, sondern müssen gerade in Zusammenhang mit der Angelegenheit Tönnjes schärfstens zurückgewie­sen werden.“

Am 11. Februar 1943, die Schlacht um Stalingrad war inzwischen verloren und der Rückzug der deutschen Armeen aus Russland begann, bat das Luft­gaukommando die Reichsumsiedlungsgesellschaft (Ruges), die Umsetzung des Landwirts Tönnies vorzunehmen, da Tönnies, unterstützt von der Reichs­stelle für Landbeschaffung in Berlin und der Landesbauernschaft Weser-Ems in Oldenburg auf Ersatzland bestehe und alle Bemühungen des Luftgaukomman­dos hierzu gescheitert seien.

Die Landesbauernschaft hatte ihrerseits ihren Standpunkt im Schlagabtausch mit dem Luftgaukommando XI in Hamburg-Blankenese in einem langen Schreiben vom 13.02.1943 dargelegt und zu jedem Ersatzobjekt nochmals Aus­führungen gemacht. Das Luftgaukommando habe aber niemals ernstlich die Beschaffung und Enteignung eines Ersatzhofes betrieben und einen Antrag bei der Reichsstelle für Landbeschaffung gestellt. Wenn die Luftwaffe tatsächlich der Meinung sei, viele passende Objekte angeboten zu haben, so sei die Nicht­stellung eines Antrages eine Unterlassungssünde und nur durch die dauernd wechselnden Sachbearbeiter zu erklären, die „gar nicht in die Materie hineinge­stiegen“ seien und die Möglichkeiten des Landbeschaffungsgesetzes gekannt hätten.

Der Landesbauernführer wirft dem Luftgaukommando vor, einen großen Papierkrieg in der Angelegenheit Wiggersloh entfesselt zu haben. Im Interesse der geschädigten Bauern und Landwirte sei nicht zu vertreten, „dass der im agrarpolitischen Sinne, und zwar durch unvermeidliche Maßnahmen militäri­schen Charakters, entstandene Wirrwarr in Adelheide bestehen“ bleibe. Die Landesbauernschaft wolle sich nicht weiter in einen unnützen Schriftwechsel mit dem Luftgaukommando einlassen. Weitere Unklarheiten könnten durch mündliche Rücksprache geklärt werden, wozu man jederzeit nach vorheriger Anmeldung in Dienstgebäude in Oldenburg zur Verfügung stehe.

Der Streit der Dienststellen war perfekt, und der Landesbauernführer Jaques Groeneveld drohte sogar, den Reichsminister für Ernährung und Landwirt­schaft und den Gauleiter Weser-Ems einzuschalten. Der „Schwarze Peter“ lag eindeutig bei der Luftwaffe. Geschickt schob allerdings der Landesbauernfüh­rer die Klärung der Ersatzlandbeschaffung der Reichsumsiedlungsgesellschaft in Berlin zu, worauf das Luftgaukommando vermutlich nur allzu gerne ein­ging. Die Akten des Verfahrens wandelten also zunächst einmal im Frühjahr 1943 an die Abteilung Platzankauf der „Ruges“.

Friedrich Wilhelm Tönnies scheinen in den folgenden Monaten einige Ange­bote an Ersatzhöfen gemacht worden zu sein. Der Kreisbauernführer teilte ihm mit, dass für ihn Land im Osten, in der Ukraine, ausgesucht sei, wie sein Sohn Gustav sich noch heute zu erinnern weiß.

Einen passenden Ersatzhof in Pommern wies Tönnies sicher mit Blick auf die Kriegslage und die herannahende Rote Armee zurück.

Am 14. Februar 1945, die sowjetischen Truppen schlossen gerade den Ring um Breslau und britische Bomberverbände hatten in der Nacht ihren Großan­griff auf Dresden geflogen, schlug die Reichsumsiedlungsgesellschaft dem Luftgaukommando XI vor, die Angelegenheit zurückzustellen. Der Brief ging, da das Luftwaffenkommando im zerstörten Hamburg nicht zu erreichen war, an die Nebenstelle Wildeshausen des Arbeitsstabes Delmenhorst. Er schließt mit den Worten:
"Aussichten für die Umsiedlung der Familie Tönnies sind unter den augen­blicklichen Zeitumständen kaum noch vorhanden. Den in Pommern angebo­tenen passenden Ersatzhof hat Tönnies, wie wir im Sommer v. J. berichteten, abgelehnt; er hat immer wieder den dringenden Wunsch ausgesprochen, im Oldenburgischen zu verbleiben. Dort steht aber ein geeigneter Ersatzbetrieb augenblicklich nicht zur Verfügung. Erschwerend ist in diesem Umsiedlungs­fall die Einstellung des Tönnies, der fast gar kein Interesse an einer Umsetzung zu erkennen gibt. Wir gestatten uns, unter diesen Verhältnissen den Vorschlag zu machen, die Umsiedlung der Familie Tönnies bis nach Kriegsende zurück­zustellen."

In der Reichsstelle für Landbeschaffung in Berlin, die vermutlich nach Ausbombung mehrfach das Quartier gewechselt hatte und in der Bauhofstraße 11 untergekommen war, ging die Durchschrift des Schreibens vom 14.02.1945 am 20. des Monats ein. Der zuständige Bearbeiter verfügte die Wiedervorlage des Vorgangs „Tönnies/Wiggersloh“ auf den 2. Juni 1945. Am 2. Mai 1945 kapitu­lierte die Reichshauptstadt vor der Roten Armee.

Der Hartnäckigkeit des Wilhelm Tönnies ist es zuzuschreiben, dass das Ent­eignungsbegehren des Luftgaukommandos XI zur Erweiterung des Adelheider Militärflugplatzes nicht zum Erfolg führte. Durch überlegtes Taktieren, ver­mutlich unterstützt durch gute Berater wie den Sachbearbeiter Erwin Knobloch bei der Landesbauernschaft in Oldenburg, der nach dem Kriege Auktio­nator und Rechtsbeistand in Delmenhorst war, konnte er eine Entscheidung über die Zuweisung eines Ersatzhofes immer wieder hinausschieben. Entschei­dend war, dass keine Dienststelle sich zu rigorosem Vorgehen und zur Aussied­lung der Familie Tönnies durchringen konnte. Dabei war Ersatzlandgestel­lung, um die es immer wieder ging, im Falle Wiggersloh wegen der Größe rechtlich in keiner Weise erforderlich. Das Ansehen des Bauerntums in der nationalsozialistischen Herrschaftsordnung und die Bedeutung der Landwirt Schaft für die Ernährung der Bevölkerung ließ zu hartes Vorgehen vielleicht auch nicht opportun erscheinen. Der Ausgang des Streits um Wiggersloh ist jedenfalls ein Sieg des „Nährstandes“ über den „Wehrstand“ im Dritten Reich. Bei der langwierigen und lang andauernden Auseinandersetzung um Wiggers­loh verselbständigte sich der Fall und wurde zunehmend zu einem Grundsatz­streit um Zuständigkeiten, Kompetenzfragen und angebliche Versäumnisse. Insoweit ist der Fall Wiggersloh ein lokales Beispiel für die eingangs erwähnte nationalsozialistische Polykratie, das heißt, für das Neben- und Gegeneinander verschiedener selbständiger Machtbereiche: Luftgaukommando, Landesbau­ernschaft, Reichsstelle für Landbeschaffung, Reichsstelle für Umsiedlung und anderen.

Je länger Tönnies die drohende Enteignung hinauszögern konnte, umso mehr wuchsen seine Erfolgsaussichten. Die militärische Notwendigkeit zur Ent­eignung war, da der Flugplatz von der Luftwaffe mit Beginn des Russlandfeldzuges 1942 kaum noch genutzt wurde, eigentlich nicht mehr gegeben. Ob dies den Beteiligten deutlich wurde, je weniger man im Kriegsverlauf mit einem deutschen Sieg rechnen konnte, kann aus den amtlichen Unterlagen nicht ent­nommen werden. Eine entsprechende Äußerung hätte vermutlich auch keiner der Beteiligten gewagt.

Quelle: Dieter Rüdebusch: Sechs Bilder Delmenhorster Gschichten, Delmenhorster Schriften Band 12 , Verlag Rieck Delmenhorst, 1986

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